Noch heute Mauern niederreißen

Noch heute Mauern niederreißen

Noch heute Mauern niederreißen

# WAS BEWEGT BERLIN?

Noch heute Mauern niederreißen

Als Pfarrer an der Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße in Berlin hält Thomas Jeutner die Erinnerung wach an die Zeit der Deutschen Teilung – und stellt sich aktuellen Fragen zu Flucht und Migration. Wir haben mit ihm anlässlich des 35. Jahrestags des 3. Oktobers gesprochen. 

Herr Jeutner, was bedeutet Ihnen persönlich der 3. Oktober?

Ehrlich gesagt, ist das aus meiner Sicht ein zufällig gewähltes Verwaltungsdatum - typisch unaufgeregt-deutsch. Die Krisen-Monate davor, vom Herbst 1989, in der alles auf der Kippe stand, waren für mich als damals knapp 30-Jährigen wesentlich bewegender. Mit der Friedlichen Revolution haben wir die Einheit erst ermöglicht, und erkämpft. 

Sie mögen den Begriff Wende nicht?

Das ist mir viel zu niedlich! Für mich passt auch das Wort Mauerfall nicht. Die Mauer wurde gestürzt. Friedliche Revolution trifft es für mich am besten – oder Umbruch. 

Wie haben Sie die Zeit der Friedlichen Revolution erlebt?

Ich war damals gerade mit meinem Theologie-Studium am Sprachenkonvikt fertig. Das war eine kirchliche Hochschule, vom DDR-Staat nicht anerkannt, aber mit hohem Anspruch, heute würde man von einer Elite-Fakultät sprechen. An einer staatlichen Uni durfte ich aus politischen Gründen nicht weiter studieren. Ich habe die 80er Jahre als sehr unruhig empfunden, voller Nervosität. Eine Umbruchzeit. Wir, die wir auf den Demonstrationen waren, haben nie damit gerechnet, dass die Mauer verschwindet. Wir hofften eher auf einen zweiten deutschen Staat, der sich neu erfindet und es besser macht. Wir wussten nicht – sollen wir bleiben oder lieber gehen. 

Nach zehn Pfarramtsjahren in Greifswald und zwölf Jahren in Hamburg sind Sie 2013 wieder zurück nach Berlin gekommen, an die Kapelle der Versöhnung …

Ich hatte große Lust, unser wiedervereinigtes Land am Beispiel dieser verrückten Stadt zu erleben. Der Arbeitsort an dieser alten Grenzwunde, auf dem ehemaligen Todesstreifen, wo die Kapelle der Versöhnung steht, hat für mich gut gepasst. Ich arbeite außerdem in einer Gemeinde im Wedding, dem alten Arbeiterviertel, wo heute viele migrantische Familien leben. Diese Mischung – Erinnerungsarbeit und die Arbeit in diesem Sozialraum – fasziniert mich bis heute. 

Was nehmen Sie aus Ihren Erfahrungen im Wedding für die Erinnerungsarbeit mit? 

Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung haben einen besonderen Bezug zum Thema Grenzen. Wenn ich in dem von uns betriebenen Nachbarschaftsraum „Waschküche“ und in der Kirchenasyl-Arbeit erfahre, welche Erfahrungen Geflüchtete machen, wird das, was wir vor 35 Jahren erlebten, dagegen ganz klein. Solche Gespräche sind sehr heilsam. Ich stelle mir dann immer die Frage: Wie können wir heute Abgrenzungen und Mauern niederreißen? Auch die in den Köpfen! 

Und der 3. Oktober heute, in der Kapelle der Versöhnung – was passiert dort?

Mir gefällt, dass der Termin im Umfeld des Erntedankfestes liegt. In der Kapelle der Versöhnung begehen wir den 3. Oktober als ruhigen Tag, mit einem Festkonzert – ein Herbsttag der Ruhe, wo man die Augen schließen und der Orgel zuhören kann. Diese ist ein kleines Wunderwerk voller Symbolik: Vier ihrer Register repräsentieren mit ihren Klangfarben die vier Alliierten im einst geteilten Berlin. Ich bin in solchen Momenten einfach nur dankbar dafür, dass die Friedliche Revolution ohne Blutvergießen abgelaufen ist. Und dass wir die Erinnerung daran hier wachhalten können.

Zur Person:

Thomas Jeutner, geboren 1960 in Prenzlau (Uckermark), ist seit 2013 Pfarrer der Versöhnungsgemeinde in Berlin-Wedding. Jeutner arbeitete nach seinem Studium als Pressepfarrer zehn Jahre in Greifswald bei der evangelischen Wochenzeitung „die Kirche". 2001 zog er mit seiner Familie nach Hamburg und war zwölf Jahre Pfarrer in Hamburg-Sasel.

Festkonzert „Deutsche“ Lieder

Wenn es eine vereinende Kraft der deutschen Geschichte gibt, dann das Lied. Ob Kunstlied oder Trinklied, Studentenlied oder Wiegenlied, Protestlied oder Straßenlied, verbindet Sara Gouzy das Singen die Menschen dieses Landes seit Jahrhunderten über jegliche Grenze hinaus. Zum Tag der Deutschen Einheit treffen Mitglieder des c/o chamber orchestras mit der französischen Mezzosopranistin Sara Gouzy zusammen, um dieses musikalische Erbe zu feiern: Was macht das „deutsche“ Lied? 

Freitag, 3. Oktober, 15 Uhr, Kapelle der Versöhnung, Bernauer Straße 4, 10115 Berlin

Link zur Gemeinde: gemeinde-versoehnung.de

Dies könnte Sie auch interessieren

0
Feed