
01/09/2025 0 Kommentare
Mit Menschlichkeit und Mitgefühl
Mit Menschlichkeit und Mitgefühl
# Berlin: Newsletter

Mit Menschlichkeit und Mitgefühl
50 Quadratmeter Raum, hohe Decken, mittendrin Frederic Riedel: 37 Jahre, schwarzes Leinenhemd, dunkle Hose, wache blaue Augen. Wer ihn an seinem Arbeitsplatz im Kirchencafé der Apostel Paulus-Kirche mitten im Schöneberger Akazienkiez besucht, wähnt sich in einem Berliner Loft. Doch nur ein Schritt durch die Glastüre, und schon steht Frederic Riedel in der Kirche.
Riedel arbeitet als Kiezworker und bringt Kiez und Kirche zusammen: Gäste und Menschen aus der Nachbarschaft, Junge wie Ältere, frisch Zugezogene und Alteingesessene. An lauen Sommerabenden sitzen sie rund um die Kirche, auf den Kirchentreppen, auf dem Rasen. Die Schwelle, die Kirche zu betreten, ist bei vielen hoch. Frederic Riedel versteht das und will es ändern – so, wie der Ort ihn verändert hat.
Nichts in seinem vorherigen Leben deutete auf diese Aufgabe hin. Nach dem Abitur in Niedersachsen beginnt er an der Technischen Uni Cottbus Betriebswirtschaft zu studieren. „Ich war ein klassischer BWLer, einer, der nicht wusste, was er wollte und bei BWL landete“. Vor dem Examen schmeißt er hin, geht nach Berlin, fängt in der Gastronomie an: spülen, bedienen, Tresen. „Die Erfahrung mit bodenständiger Arbeit mein Geld zu verdienen, kann mir keiner nehmen.“
Seitdem weiß er, was Menschen benötigen - „Gastgeber-Blick“ nennt Riedel das, und der hilft ihm heute bei seiner Arbeit als Kiezworker. Später studiert er an der Viadrina in Frankfurt Wirtschaft und Recht. Nach zwei Jahren hält er den Abschluss in den Händen. Doch die Freude fehlt. „Ich fühlte mich nicht gebraucht, weil ich immer noch nicht wusste, was ich wollte“, sagt Frederic Riedel.
Er bekommt Stellenanzeigen und bleibt bei einer hängen, die eigentlich so gar nicht zu seinem beruflichen Profil passt: Eine Berliner Kirchengemeinde sucht einen Kiezworker, finanziert vom Senat durch das „solidarische Grundeinkommen“. Kirche, er? Warum nicht, denkt Riedel. Irgendetwas reizt ihn an der Aufgabe. Nein, er müsse keine enge Bindung an Kirche haben, versicherte ihm die Pfarrerin, Martina Steffen-Elis. Die Gemeinde suche Menschen, die Kirche im Kiez sichtbar machen. Riedel sagt zu. Fünf Jahre ist das jetzt her. Auch Riedels Freunde, die anfangs ihren Frederic und die Kirche nicht zusammenbringen konnten, spüren: die Menschen und der Ort tun ihm gut.
Im Sommer kommt die Nachbarschaft in die Kirche, wenn es in den Wohnungen zu heiß wird. Hier finden sie kühle 20 Grad und eine kleine Bibliothek mit Büchern, dazu Lesesessel und einen Wasserspender. Im Winter ist es die geheizte Kirche, die Menschen aus dem Kiez, aber auch Obdachlose hierher lockt. Manche wollen reden, andere in der Stille für sich sein oder eine Kerze entzünden. Riedels Aufgabe ist die Betreuung und das Gastgeben. Gleichzeitig koordiniert er die zahlreichen Ehrenamtlichen, die mit ihm die Kirche offenhalten.
Der Raum bringt völlig unterschiedliche Menschen zusammen. „Das geht fast immer gut“, sagt Frederic Riedel. Aber er weiß auch um die Klarheit, die es braucht, damit es auf Dauer gut geht. „Ich teile die Werte, die wir hier leben wollen: Menschlichkeit und Mitgefühl.“ Und es gibt Grenzen. Riedel: „Wer zum Beispiel Fremdenfeindliches sagt, muss die Kirche verlassen.“
Besonders bewegen Frederic Riedel die Lebensmelodien-Konzerte, bei denen Werke jüdischer Komponisten gespielt werden, die während des Holocaust entstanden sind. „Wenn ich das höre, spüre ich so einen inneren Zauber“, schwärmt Riedel. Und sieht gleich die Chance, die gerade Konzerte bieten: Auch jüngere Menschen in die Kirche zu holen. „Wenn sie merken, hier ist ein sicherer Ort und ich verbringe eine gute Zeit, kommen sie wieder“, ist Frederic Riedels Erfahrung. Die Musik und der Raum verändern die Menschen, sagt Riedel. „Mir gibt dieser Kirchraum ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit, Selbstbewusstsein und befreitem Atmen“.
Kirche als ein Ort, an dem Menschen ankommen, aber auch stranden dürften, mit allen ihren Sorgen und Ängsten um die Zukunft. Menschen aufzufangen. Gerade gegenwärtig, wo sich so viele um die Zukunft sorgen, wird die Kirche gebraucht.
„Mit Gelassenheit, Offenheit und Mut können wir dabei helfen, Menschen anzusprechen und, wenn es nötig ist, aufzufangen“, beschreibt Riedel seine Aufgabe aus Kiezworker. Bis heute sei er unendlich dankbar, wie warm und freundlich er von der Pfarrerin und dem Team der Apostel-Paulus-Kirche aufgenommen wurde. Dieses Gefühl will er weitergeben. „Der Ort und die Menschen, das hat mich entzündet“, sagt Frederic Riedel, „als Kiezworker und auch als Mensch.“
Kommentare